Psychologische Sicherungsseile
Welche psychologischen Sicherungs-Seile könnte es geben, um den Aufstieg hin zu NEW WORK – also in die neue Welt der Arbeit - abzusichern?
Ich hatte - liegt nun schon etwas zurück - ja eine anregende Diskussion mit Birgit Spiess; eine der Autorin des Buches Digitale Psychologie.
Und angeregt durch dies Diskussion habe ich mich auf den Weg gemacht und gesichtet, welche der psychologischen Ansätze und Konzepte, mit denen wir arbeiten, als Sicherungs-Seile für den Einstieg / Aufstieg hin zu NEW WORK in Betracht kommen.
Bevor wir weiter unten auf mögliche psychologische Sicherungs-Seile eingehen, vorab dieses zur Orientierung:
- Digitalisierung - ich zitiere aus dem erwähnten Buch "Digitale Psychologie":
Längst bezeichnet der Begriff „digital“ nicht mehr im ursprünglichen Verständnis das technisch Digitale. Aus „1“ und „0“ zur Kodierung für die Übertragung von Informationen ist seit den 2010er Jahren ein Synonym geworden, das die Anwendung digitaler Technologien im privaten, wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Bereich umfasst. Nach Sühlmann-Faul (2019) ist die Digitalisierung eine Transformation, die umfassend und gesellschaftsweit ist und weit mehr bedeutet als die Nutzung von Computern oder die Vernetzung von Menschen.
- NEW WORK
Inzwischen ein vielschichtig verwendeter Container-Begriff, der in der aktuellen Diskussion jedoch zunehmend auf remote-work und flexible Arbeitszeit- und Arbeitsortkonzepte reduziert wird (z.B. die 4-Tage Woche).
Wenn wir hier den Blick wieder etwas weiten und im Sinne einer neuen Welt der Arbeit den oben erwähnten Kerngedanken einer "umfassenden gesellschaftlichen Transformation" reflektieren, werden sowohl "alte" Ansätze wie z.B. Humanisierung der Arbeitswelt oder lean ebenso einbezogen- und dabei neu akzentuiert - als auch neuere Impulse z.B. aus dem agiles Projektmanagement oder der VOPA+ Diskussion.
Die neue Welt der Arbeit / NEW WORK reflektiert damit das Spannungsfeld von gesellschaftlich digitaler Transformation, den "alten" und den "neueren" Konzepten aus der Welt der Arbeit und der Notwendigkeit, die Geschäftsmodelle nachhaltig auszurichten. NEW WORK ist damit eine Wette auf die Zukunftsfähigkeit und Resilienz von Organisationen und deren Mitarbeiter.
- PSYCHOLOGIE
Psychologie beschäftigt sich in Forschung und Anwendung mit Erleben, Verhalten und Denken der Menschen in ihren jeweiligen Lebenszusammenhängen. Tätig sein an sich, Erwerbstätigkeit und Arbeit in Organisationen ist dabei ein Handlungs- und Anwendungsfeld der Psychologie neben vielen weiteren.
DIGITALE PSYCHOLOGIE geht dabei der Frage nach, was die Digitalisierung von Gesellschaft und Wirtschaft für das Erleben, Denken und Verhalten bedeutet: was die Digitalisierung "mit uns macht" - und "was wir mit der Digitalisierung machen". Im Kern geht es um Anpassungsleistungen, Lernleistungen und Gestaltungsleistungen.
Soweit ein kurzer Vorspann. Und nun: welche Impulse, Ansätze und Modelle aus der Psychologie könnten hilfreich sein, um als Sicherungs-Seil für den Einstieg / Aufstieg in die neue Welt der Arbeit / NEW WORK zu dienen?
- Purpose - die Frage nach dem Sinn
- Nicht neu - aber vielleicht wichtiger denn je! Wenn wir von Nachhaltigkeit und grünen Geschäftsmodellen reden, sind in der Regel Viele schnell dabei. Wenn es dann aber darum geht, neue Produkt- und Vertriebsmodelle wie z.B. "as a service" oder "on demand" aufzulegen und mit neuen Prozessen, integrierten Wertschöpfungsketten und neuen Rollen zu hinterlegen, sieht es schon wieder anders aus. Und ich rede hier noch nicht davon, den Lebensstil als solchen zu verändern…
- Gleichwohl: das Wissen um einen "höheren" Sinn hilft enorm, sich zu focussieren und Kräfte zu mobilisieren. Deshalb muss NEW WORK erkennbar in ein Großes Ganzes eingebettet werden. Hier taucht dann der Ansatz story line und story telling auf.
- Und jeder Mitarbeiter muss sich der Frage stellen: welchen Beitrag kann ich jeden Tag auf dem Weg zu NEW WORK leisten - auch wenn er noch so klein erscheint… Diese Reflektionsfragen haben im besten Fall Selbstwert-stabilisierende Funktion, dienen der Psycho-Hygiene und der mentalen Fitness.
- Realistisches Menschenbild
- "Aus so krummen Holz, als woraus der Mensch gemacht ist, kann kein ganz Gerades gezimmert werden" (Kant). Dies schützt uns vor einem "naiven" Blick auf den Menschen und schützt uns insbesondere vor Enttäuschungen, wenn wir mit gut gemeinten Führungsimpulsen und Strukturen nicht nur auf Gegenliebe treffen.
- Es hilft uns zugleich, mit unseren Bemühungen um eine zukunftsfähige und robuste Organisation nicht aufzugeben. Auf unserem Weg hin zu NEW WORK sind wir nicht automatisch everybodys darling. Das müssen wir aushalten. Hier hilft auch der Hinweis auf die Volitionskompetenz.
- Dimensionen der Persönlichkeit
- Ganz früher haben wir noch von "Persönlichkeitstypen" oder von "Charaktertypen" gesprochen – und haben uns damit den Weg in ein Schubladendenken geebnet. Der Komplexität, Vielschichtigkeit und Gleichzeitigkeit des Mensch-Seins werden wir jedoch gerechter, wenn wir von Dimensionen der Persönlichkeit sprechen. Denn damit bringen wir zum Ausdruck, dass der Mensch als Solches Vielen sein kann – und das zugleich (wer bin ich – und wenn ja: wie viele). Es scheint daher angemessener, lieber von Persönlichkeitsdimensionen zu reden. Und nur mal am Rande: mit dieser "Ausstattung" ist der Mensch in der Lage, unendlich viel Gutes zu tun - und auch schreckliche Dinge anzurichten. Davon weiss schon die Bibel zu berichten (siehe hierzu den podcast der Zeit „Unter Pastorentöchtern“).
- Dieses Set ist in mehreren Modellen ganz gut beschrieben - siehe die Big Five oder auch Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung (BIP). Hilfreich ist uns auch immer noch der Bezug zu den Grundformen der Angst (Riemann). Eine weite Verbreitung hat auch der DISG gefunden (Dominanz, Initiative, Stetigkeit und Gewissenhaftigkeit).
- Die Botschaft all dieser Modelle ist: der Mensch als Persönlichkeit lässt sich nicht in eine Schublade packen und damit eindimensional oder linear beschreiben - er ist eben Vieles und das auch noch zugleich. Das hilft ungemein, sehr viel vorsichtiger mit "Verhaltens-Zuschreibungen" zu sein - die den fatalen Effekt haben, genau auch dieses Verhalten zu erwarten (siehe selektive Wahrnehmung - sich selbst erfüllende Prophezeiung).
- Problematisch wird es ja erst, wenn ein Mitarbeiter oder eine Führungskraft von einer Dimension "einfach zu viel" hat. Dann wird das Verhalten mit Blick auf seine Rolle einfach "dysfunktional" und eine Gesundheitsgefährdung ist auch nicht mehr weit. Problematisch ist daran auch, dass diese Person dann keinen Zugang mehr zu seinen sonstigen Ressourcen hat und ein "persönliches Wachstum" sehr schwer wird. Genau dies benötigen wir jedoch mit Blick auf NEW WORK - denn es geht ja um Anpassungsleistungen, Lernleistungen und Gestaltungsleistungen. Psychologie hat ein breites Spektrum von Interventionen parat, um genau diese "Dysfunktionalität" aufzugreifen un der Reflektion zuzuführen - auch im Rahmen von "low intensive consulting".
- Denken und Erleben
- Jede Change-Initiative und Transformation sollte in einen business case und eine überzeugende story line eingebettet sein - das gilt auch für unseren Weg hin zu NEW WORK. Darüber hinaus gilt: jeder Mensch begegnet diesem Change mit seinen individuellen mentalen Modellen und seinem emotionalen Mustern (siehe Dimensionen der Persönlichkeit).
- Das Eisbergmodell nach Ruch/Zimbardo (1974) sensibilisiert und schärft unseren Blick genau dafür. Es hilft uns zu verstehen, wo die Mitarbeiter möglicherweise stehen und wie wir sie dort abholen können, wenn sie "Be-Denken" haben.
- Auch die Veränderungskurve von Kübler-Ross schärft unseren Blick - auch wenn es sich bei NEW WORK weniger um einen einmaligen Einschnitt handelt, sondern mehr um einen längerfristig angelegten gemeinsamen Entwicklungs- und Lernprozess: so haben wir Change schon immer verstanden - und das gilt erst recht für unseren Weg hin zu NEW WORK.
- Der kompetente Umgang mit eigenen Empfindungen und den Empfindungen der Mitarbeiter kommt auch bei der Volitionskompetenz eine besondere Bedeutung zu. Und natürlich auch im Resilienz-Ansatz. Gerade hier sind nochmals Brücken zu schlagen: denn NEW WORK soll ja die Robustheit und Widerstandfähigkeit der Organisation und deren Mitarbeiter stärken.
- Selbstwert-Gefühl. Ein gutes Selbstwertgefühl schützt davor, Andere klein zu machen, um sich dadurch selber groß fühlen zu können. Ein gutes Selbstwertgefühl hilft dabei, eine konstruktive Lern- und Fehlerkultur aufzubauen und Wissen zu teilen. Deshalb ist es wichtig, das eigene Selbstwertgefühl beständig auszupolstern und zu pflegen. Es ist eine never ending story - und läuft als "Schatten-Thema" immer mit.
- Selbst-Akzeptanz. Wer sich selbst mit seinen unterschiedlichen Dimensionen seiner Persönlichkeit erkennt und annimmt (siehe Johary-Fenster) , ist eher in der Lage, die Andersartigkeit der Anderen und deren "Landkarten" zu erkennen, wertschätzend mit Andersartigkeit umzugehen und Andersartigkeit als Potential für Teamarbeit zu nutzen. Selbstakzeptanz und Selbstwertgefühlt sind verschwistert.
- Selbst-Wirksamkeits-Überzeugung (nach Albert Bandura). Dies ist zentral wichtig, um in ein eigen-verantwortliches und selbst-gesteuertes Handeln zu kommen: in der Übernahme von Verantwortung, in der Zusammenarbeit mit Anderen, im Informationserwerb, im Lernverhalten und Aufbau von Kompetenzen - und insbesondere auch im Umgang mit Belastungen. Siehe hierzu auch Volitions- und Resilienz-Kompetenz.
- Gruppen-Dynamik ist immer und überall
- Hier geht es um das jeweilige soziale Verhalten oder Verhältnis von Mitgliedern einer Gruppe
- Als eine guten Zugang zum Thema find ich immer noch das Gruppen-Entwicklungsmodell in Anlehnung an Tuckmann, das folgende Phasen beschreibt: forming - storming - norming - performing - re-forming. Es handelt sich aber eben nicht um einen linearen Prozess, sondern um einen zyklischen Prozess, bei dem die Gruppen einzelne Phasen sowohl überspringen als auch wieder zurückfallen können.
- Gerade mit Blick auf die geforderte Agilität kommt der Fähigkeit und Kompetenz, sich schnell in Gruppen zu orientieren und sich zu organisieren eine große Bedeutung zu. Nicht umsonst legen wir bei NEW WORK ein besonderes Gewicht auf Selbst-Steuerung der Arbeits- und Lern-Teams und setzen und auf die Selbst-Wirksamkeit jedes Einzelnen. Desto wichtiger scheint uns deshalb, den Blick für die Entwicklungsphasen zu schärfen und das Team in ihrer jeweiligen Entwicklungsphase durch kleine Impulse und Interventionen zu stützen.
- Zumindest die Führungskraft sollte für gruppendynamische Phänomene sensibilisiert sein und sie positiv beeinflussen können. Zur positiven Beeinflussung durch die Führungskraft zählt z.B.: klare Rollen (siehe auch die Rollen im Scrum-Ansatz), Transparenz und transparente Kommunikation, eindeutiger Umgang mit Macht, klare und vergemeinschaftet Ziele und Zwischenziele. Es gilt: je weniger Rollen-, Aufgaben- und Zielklarheit, desto mehr Platz ist für "dysfunktionale" Verhaltensweisen und negative Energie.
- Wichtig ist auch: jeder Mitarbeiter soll seine Chance bekommen, den Weg in Richtung NEW WORK mit zu gehen. Unrealistische Erwartungen und gruppendynamischer Druck des Teams gegenüber Einzelnen müssen gedämpft werden - und ebenso müssen "Giftspritzen" und "Verweigerer" eingehegt und zur Not auch ausgegrenzt werden.
- Besonders spannend finden wir die Frage, wie sich diese Gruppendynamik im digitalen Raum entfaltet - der ja auch ein Treffpunkt für Beziehungsgestaltung und für ein soziales Miteinander ist und der Befriedung von sozialen Bedürfnissen dient. Das sollten wir im Auge im behalten - dem sollten wir nachgehen.
- Kommunikation und Kooperation
- Das Kommunikation zentral ist, ist schon klar. Und immer noch finden wir die "Vier Aspekte der Sprache" nach Schulz von Thun grundsätzlich hilfreich. Oder das Kommunikationsmodell der Transaktionsanalyse. Oder eben auch das Methoden-set aus der Grossgruppentradition zur Organisation von Kommunikation, um das System als Ganzes in Bewegung zu bringen.
- Und auch zur Kooperation in Teams ist im Prinzip genügend erarbeitet worden; wir nutzen hier immer noch gerne die Merkmale erfolgreicher Teamarbeit nach (Francis/Young). Aber auch die Arbeiten von Jack R. Gibb aus den 70ern haben uns lange begleitet…
- Besonders spannend wird es, wenn wir uns näher mit der Kommunikation und Kooperation im digitalen Raum beschäftigen. Welche Hinweise aus der Kommunikationspsychologie und der Kleingruppenforschung sind hier noch oder besonders von Bedeutung? Welche ganz eigenen Kommunikations- und Kooperationsmuster sind im digitalen Raum schon entstanden? Was bedeutet dies für die Qualität und Gestaltung von Beziehungen untereinander? Was passiert "dynamisch" zwischen solchen Kollegen, die sich mit großer Lust und Begeisterung im digitalen Raum bewegen - und solchen, die mit dem digitalen Raum fremdeln und sich dort nur mit Widerwillen aufhalten: kommt es zu Spaltungen und Lagerbildungen? Entwickeln sich ganz neue Sub-Systeme in den Gruppen und gruppenübergreifend, die einen besonderen Gestaltungsanspruch für sich reklamieren? Entstehen hier Freiräume für Kreativität? Wie kann ein hybrides Modell das Beste aus beiden Welten verknüpfen? Verstärkt sich im digitalen Raum eher ein uneigennütziges Verhalten - oder ist es genau umgekehrt? Inwieweit verändern sich im digitalen Raum Aufmerksamkeit, Kognition und Emotion?
Zum Schluss noch folgende Anmerkung:
- Das Thema Führung habe ich extra ausgespart - das werde ich gesondert behandeln.
- Auch wenn wir hier die "psychologische Brille" aufgesetzt haben: uns ist wichtig zu betonen, dass wir mit Digitalisierung und NEW WORK besser vorankommen, wenn wir die Erkenntnisse aus Kognitionswissenschaft, Informatik, Künstlicher-Intelligenz Forschung, Softwareergonomie, Design und der Techniksoziologie verknüpfen.
DENKPAUSE!
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